Martin Luther (1483-1546) kannte das Wort „semitisch“ nicht.
Diese für uns vielleicht überraschende Tatsache erklärt sich ganz einfach dadurch, dass der Begriff nachweislich erst 1781 von dem Göttinger Historiker und Philologen August Ludwig von Schlözer (1735–1809) geprägt wurde. Die Bezeichnung lehnt sich an Noahs Sohn Sem an, der auch als Stammvater der Aramäer, Assyrer, Elamiter, Chaldäer und Lyder gilt. Wann immer in der Bibel und in den Schriften der Kirchenvätern von der „Sprache der Juden“ oder der „Hebräer“ die Rede war, unterstellte Luther noch wie selbstverständlich alle anderen, dass hiermit Hebräisch gemeint sein musste.
Aramäisch
Die Aramäer sind eine semitische Völkergruppe, die sich in der ausgehenden Bronzezeit (2000-800 v. Chr.) im Raum Syrien niederließen und dort Stadtkönigreiche bildeten. Die Luther noch unbekannte Sprache Aramäisch ist seit etwa 1000 v. Chr. belegt, wobei sie zunächst in den Stadtkönigreichen Syriens verbreitet war. Diese standen in Rivalität mit den Assyrern, denen sie ab dem 8 Jh. tributpflichtig wurden. Der hohe Rang der Kultur und Sprache der Aramäer lässt sich daran ermessen, dass die Assyrer ihre Kultur tolerierten und ihrer Sprache Raum liessen. Obwohl politisch bald das assyrische Reich durch das neu-babylonische und dann durch das persische Reich abgelöst wurde, nahm die Verbreitung des Aramäischen als Lingua Franca im gesamten vorderasiatischen Raum weiter zu. Die sog. Quadratschrift des Aramäischen verdrängte sogar die alt-hebräischen Schriftzeichen. Das heißt: Hebräisch wurde und wird auch heute noch in aramäischen Buchstaben geschrieben.
Jüdischen Gelehrten war Aramäisch von Anfang an bekannt. Sie benutzten die Sprache sogar selbst, nachdem die Römer nach den vernichtenden Kriegen von 66 bis 136 n. Chr. die gesamte jüdische Kultur durch Vertreibung und Umsiedelung zerstreut hatten.
Die semitische Sprachfamilie
Ähnlichkeiten zwischen Hebräisch, Aramäisch und Arabisch fielen jüdischen Gelehrten bereits im Mittelalter auf. Noch in der Renaissance wurde die Theorie vertreten, dass das Hebräische die „Sprache des Paradieses“ gewesen sei und dass Aramäisch und Arabisch Mischsprachen seien, die daraus entstanden seien. Erst im 18. Jahrhundert begann sich eine neuere Betrachtungsweise durchzusetzen. Man konnte eine Gruppe von kanaanäischen Sprachen ausmachen, in die das Hebräische gut hineinpasste. Alle drei Sprachen führte man damit auf einen gemeinsamen Ursprung zurück.
Die aramäischen Sprachen trennten sich vermutlich um die Mitte des 2. Jahrtausends v. Chr. von den kanaanäischen Sprachen, zu denen wie gesagt auch das Herbräische gehört. Schriftzeugnisse des Alt-Aramäischen gibt es von etwa 1000 v. Chr. aus dem Raum der syrischen Stadtkönigreiche. Die Bezeichnung „Aramäisch“ wurde von ihren Sprechern bereits um 500-600 verwendet. In dieser Zeit erreichte das Aramäische in der Form des Reichs- oder Mittelaramäischen (5. bis 3. Jh. v. Chr.) seine größte Bedeutung. Es war eine von den vier hauptsächlichen Verkehrssprachen auf dem Boden der assyrischen Nachfolgereiche, neben Assyrisch, Persisch und Griechisch, aber definitiv vor Hebräisch.
Muttersprache Jesu
Die in Galiläa gesprochene Muttersprache von Jesus von Nazaret wird Klassisches Westaramäisch, auch Galiläisches Westaramäisch, genannt. Wieviel Ähnlichkeit es mit Hebräisch tatsächlich hatte, ist in der Wissenschaft noch recht umstritten. Allerdings muss man von Sprachen, die fast 1000 Jahre lang Zeit hatten, sich getrennt zu entwickeln, erwarten, dass sie doch sehr eigenständig waren. Die eine als Dialekt der anderen anzusehen, ist mit Sicherheit zu gewagt.
Quellen
Wer einmal eine Grammatik des biblischen Aramäisch ansehen möchte, findet hier die zwei wichtigsten Werke:
- Kurzgefasste Grammatik der biblisch-aramäischen Sprache von Karl Marti (1925)
- Grammatik des Jüdisch-Palästinischen Aramäisch von Gustav Dalman (1905).
Da die aramäischen Varianten in Syrien eine besonders reichhaltige Literatur hervorgebracht haben, wird die Philologie des Aramäischen auch oft als Syrologie bezeichnet.
- Artikel Aram / Aramäer von Niehr, Herbert (2016) in: Das Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (www.wibilex.de).