Geschichte Russlands und der Ukraine

Russische Politiker und Intellektuelle werfen uns Mitteleuropäern oft vor, trotz der räumlichen Nähe ahnungslos in Sachen russischer Geschichte und Landeskunde zu sein. Das ist leider nicht ganz falsch. Dem will dieser Beitrag so gut es geht etwas abhelfen.  Aus gutem Grund spielt darin die Ukraine eine besondere Rolle. Sie war sowohl Vorläufer des russischen Zarenreiches, in dem sie dann politisch aufging, behielt in ihm allerdings ihre ethnische Eigenständigkeit, was in der Sowjetunion als eigene Teilrepublik zum Ausdruck kam, die auch als Gründungsmitglied der Vereinten Nationen (UN) auftrat. Aber wir wollen nicht vorgreifen…

Russland ist ein Vielvölkerstaat wie er im Buche steht. Daher hatten in der Vergangenheit auch dort Geborene ihre Schwierigkeiten.

„Verstehen kann man Russland nicht  / und auch nicht messen mit Verstand. / Es hat sein eigenes Gesicht. / Nur glauben kann man an das Land.“

Reimte der Dichter Fjodor Iwano­witsch Tjuttschew (1866).

Spätantike und Frühmittelalter

Zunächst ist von Russen und Ukrainern weit und breit noch nichts zu sehen. Aber die Slawen treten in  das Licht der Weltgeschichte.

Während der langen Regierungszeit des römischen Kaisers Justinian I. (525-565) gerät ein Volksstamm von Slawen in die Aufmerksamkeit der Geschichts­schreiber, weil sie Raubzüge in die Provinzen nahe der Donaumündung unternehmen. Sie siedeln irgendwo im Norden des Schwarzen Meeres. Es  ist unbekannt, ob sie schon immer dort waren oder eingewandert sind. Es ist auch unbekannt, ob sie ethnisch wirklich eine homogene Gruppe waren oder nur von außen so wahrgenommen wurden. Im Laufe der Jahrhunderte besiedeln sie große freie Räume in ganz Osteuropa bis hin zur Ostsee und an die Elbe, wobei sie jedoch die Prussen und Balten nicht verdrängen und auch vor den Finno-Ugriern im Norden halt machen. Dabei bilden sich verschiedene Sprachen heraus. Mönche aus Byzanz ziehen ihnen hinterher und versuchen mit mehr oder weniger Erfolg, ihnen das Christentum griechisch-byzantinischer Prägung zu vermitteln.

Der Ursprung des Namens Slawen ist in der sprachwissenschaftlichen For­schung immer noch umstritten. Eine (schöne) Theorie nimmt an, dass er vom gemein­slawischen *слŏвŏ (heute slóvo) „Wort“ abgeleitet wird, womit sich die „Spre­chenden“ oder „Beredeten“ selbst von den „Stummen“ abgrenz­ten, wobei das Wort Némec (stumm) sich zur Bezeichnung für die Deutschen entwickelt hat.

Die ersten schriftlichen Zeugnisse finden sich ab 863 im Großraum des heutigen Bulgarien bis nach Mähren (Slowakei) in Form christlicher Texte. Ihre Sprache heißt heute meist Alt-Slawisch, aber auch Alt-Bulgarisch oder Alt-Kirchenslawisch. Geschrieben wurden sie in einer Vorform des heutigen kyrillischen Alphabets, welches von dem Mönch Konstantin von Saloniki, genannt Kyrillos, basierend auf dem griechischen und anderen antiken Alphabeten entwickelt wurde, um die vielen Laute abzubilden, die im Griechischen unbekannt waren; man denke an die „Zischlaute“. Die alten sog. glagolitischen Buchstaben finden sich auch teilweise heute noch auf dem Balkan für dekorative oder religiöse Texte oder werden von nationalen Bewegungen propagiert. In 893 wurde dies die Staatssprache des Bulgarischen Reiches.

In dieser Zeit bewegen sich auch die aus dem südlichen Ural stammenden Magyaren (Ungarn) durch den slawischen Siedlungsraum, was darauf hindeutet, dass die Besiedlungsdichte insgesamt sehr gering gewesen sein musste. Sie unterscheiden sich vor allem sprachlich völlig von ihren slawischen Nachbarn. Allein mit den heutigen Finnen, die wohl aus dem nördlichen Ural stammen müssen, verbindet sie eine Verwandtschaft. Sie haben einige Bündnisse mit den Byzantinern und fügen mit ihnen gemeinsam den Bulgaren einige Niederlagen  zu. Dann brechen sie sogar zu Raubzügen bis nach Süddeutschland auf, werden dort aber 955 gestoppt und lassen sich am Ende an der mittleren Donau im heutigen Ungarn nieder, wo sie unter Stephan I. das Christentum annehmen und ein Königreich errichten.

Die Rus

In dieser Zeit durchzogen skandinavische Fernhändler (Waräger) von der nördlichen Ostsee die Gebiete der Finno-Ugrier, Balten und Slawen und nutzten die großen Ströme Don und Dnjepr, um schließlich byzantinisches Gebiet zu erreichen.  Einer von ihnen, ein gewisser Rurik (Rjurik) wurde 862 von zerstrittenen Stämmen im Gebiet Nowgorod  zum neutralen Anführer gewählt und sollte dauerhaften Frieden sicherstellen. Zusammen mit seinen Brüdern gelang es ihm. Rurik begründete die Dynastie der Rurikiden, welche bis 1598  bestehen sollte. Rurik soll zu einem Stamm der Rus gehört haben, allerdings bezweifeln russische Historiker, dass diese Waräger, also Wikinger, gewesen sein können, sondern postulieren eine slawische Zugehörigkeit. Rurik dehnte seine Herrschaft rasch aus und 882 fiel auch Kiew in seine Hand, welches er zu seiner Hauptstadt machte. So wurde Kiew zur „Mutter der russischen Städte“. Denn die Bezeichnung „Rus“ wurde zur Bezeichnung seines Herrschaftsgebietes. Erst im 19. Jh. führte der Historiker Karamsin den Namen „Kiewer Rus“ dafür ein, um es von den anderen Herrschaftsgebieten der „Wladimirer Rus“ und der „Moskauer Rus“ abzugrenzen. Die ursprüngliche Rus wird von der heutigen Wissenschaft daher auch der „altrussische Staat“ genannt. Kiew besaß eine gute Ost-West Verbindung und lag zeitlich etwa in der Mitte zwischen der Ostsee  und Byzanz (48 Stunden von der Dnjepr-Mündung über das Schwarze Meer). Die Rus kontrollierte also nun den gesamten Handel auf der östlichen Nord-Süd-Route. Um diese Handelsachse herum wuchs ihr Staat weiter an und kontrollierte bald alle ostslawischen Siedlungsgebiete.

Bis 1054 entwickelten sich die Kiewer Fürsten zu hohem Ansehen in Europa. Im Jahr 988 traf der Großfürst Wladimir der Große die Entscheidung, mit einer einheitlichen Religion die uneinheitlichen slawischen Stammeskulte seiner verschiedenen  Landesteile abzulösen. Nachdem er Informationen über den Islam, Judentum und den römischen Papst eingeholt hatte, vertraute er sich am Ende den byzantinischen Glaubenslehrern an, was zugleich ein politischer Schachzug war und er eine echte byzantinische Prinzessin als Ehefrau heimführen konnte. Er ordnete Massentaufen an, musste allerdings hinnehmen, dass sich die alten Sitten hier und da noch lange hielten.

Ob die Geschichte genauso verlaufen ist, wie es die für die frühe russische Geschichte wichtige Nestorchronik behauptet, kann wissenschaftlich nicht sicher entschieden werden. Diese Chronik behauptet auch, dass die Slawen eines der 72 Völker waren, die durch den Turmbau von Babel verstreut  wurden und sich dann an der mittleren bis unteren Donau niederließen. Sie lässt auch den Apostel Andreas über das Schwarze Meer den Dnjepr aufwärts bis zur Ostsee und weiter bis Rom reisen.  Die Nestorchronik gilt als eines der identitätsstiftenden Kulturdokumente für Russland, Weißrussland und die Ukraine.

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