Ach, Kirche!

Mehr Chancen nutzen.

Manchmal lohnt es sich, den Blick zu weiten und einen Sachverhalt aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Warum sind die Menschen im Bistum Essen, nachdem der Pfarrei­ent­wick­lungs­prozess so intensiv erlebt wurde, so gespalten?

Der große deutsche Denker der Gegen­wart Hans Magnus Enzensberger hat ein beachtetes Buch mit dem Titel „Ach Europa“ geschrieben, in dem er ein „Europa der Wünsche“ portraitiert, welches „seine Zukunft vielleicht noch nicht hinter sich hat„. Das Buch und sein lauter Seufzer im Titel wurde gerade in einem klugen Kommentar und einem Leitartikel über die Zeitumstellung von Matthias Iken zitiert, der diesen großartigen Kontinent ohne Not mal wieder in schwerer See sieht und sich selbst schadet, ohne es zu wollen.

Wer denkt da nicht sofort an Kirche? In Abwandlung des Titels möchte man also ebenso laut „Ach, Kirche!“rufen. Die von vielen Menschen immer noch respektierte Gemeinschaft hat es im Bistum Essen wieder einmal geschafft, sich in eine Enge zu navigieren. Dabei hatte es das Bistum doch gut gemeint, als es 2015 einen Pfarrei­entwick­lungs­prozess (PEP) ins Leben rief. Man wollte den Menschen nah sein, hören wo Sorgen und Wünsche waren und breite Zustimmung zu Veränderungen gewinnen. Aber es war nicht gut, sondern nur sein Gegenteil: gut gemeint. Der PEP hat das Zeug, als Desaster in die Geschichte des Bistums einzugehen, obwohl alles viel besser begann.

Angriffspunkte

Die Ergebnisse des PEP sind in sog. Voten der Pfarreien schriftlich nieder­gelegt und vom Bischof bestätigt worden. Er erwartet jetzt, dass die Gemeinden sie umsetzen, und hat den Zeitpunkt für die ersten Berichte auf Ende 2020 gesetzt. Aber es gibt Widerstand. Die Basis ist anderer Meinung als ihre Gremien. Die Voten sind nur teilweise repräsentativ für die Meinung in den Gemeinden, am allerwenigstens was deren „harte“, wirtschaftliche Seite angeht.

Bevor die Gemeinden eine ergebnis­offene Diskussion führen konnten, stand das Ergebnis schon fest. Das Bistum hatte unbemerkt die Pfarreien durch seine Vorgaben dahin gesteuert, wohin es sie wirtschaftlich haben wollte. Es fehlt nun die Kraft, ein überhastetes Vorgehen zu hinterfragen und unzulängliche Voten zu erkennen und wenn nötig zu korrigieren, weil man sonst als nicht sorgfältig oder inkonsequent betrachtet werden könnte.

Die Kirche lebt von Symbolen. Für lebendige und aktive Kirchengemeinden, die es bisher unter Einsatz vieler Kräfte geschafft haben, ihr Haus Gottes offen und einladend zu halten, kommen sakrale Ersatzräume wie umgebaute Gemeindesäle oder Pfarrhäuser nicht in Betracht, wenn die daneben stehende Kirche vom Rotstift scheinbar diktiert eingespart werden soll. Was wäre das für ein Zeichen an eine Gemeinde? Dass sie nicht mehr gut genug ist, nicht mehr die Anforderungen erfüllt? Nur 91 von 262 Kirchen im Bistum Essen sollen in Zukunft noch mit dauerhaften Haushaltsmitteln aus der Kirchensteuer rechnen können.

Die großen Themen

Die Kirche als solche, nicht nur im Bistum Essen natürlich, steht vor gewaltigen Herausforderungen. Obwohl diese schon oft genug zitiert worden sind, wollen wir sie uns vor Augen rufen: die Jugend will zurückgeholt werden, die Frauen wollen zur Weihe zugelassen werden, die Priester wollen die Ehelosigkeit selbst wählen dürfen, die Strukturen sollten demokratischer werden, die Finanzen sollten in Deutschland gerechter unter den Bistümern verteilt werden, Frauen wollen in den Hierarchien gleichberechtigt mitentscheiden, die Austrittswelle muss zum Stillstand kommen, das christliche Selbst­verständnis soll in der Gesellschaft zu Gehör kommen, die Glaubwürdigkeit soll wieder hergestellt werden und zuletzt, aber nicht am unwichtigsten, die Wunden durch den Missbrauchskandal müssen heilen.

Worum wird gestritten?

Und was leisten wir uns im Bistum Essen? Einen Streit um Buchhaltung. Darum, ob das Bistum die Bildung von Rücklagen zur Instandhaltung von Gebäuden, vorrangig Kirchen, aber nicht nur, aus seiner eigenen Bilanz in die Bilanzen der Pfarreien verlagern kann. In jeder Pfarrei geht es dabei jährlich durchaus um Hundert­tausende.

Etwas auf die „hohe Kante“ legen, also Rücklagen bilden, kann man aber nur, wenn man etwas übrig, also einen Überschuss hat. Den haben unsere Pfarreien aber nicht. Seit Jahrzehnten hat das Bistum wie überall in Deutschland seinen Aufwand für die sog. pastorale Seelsorge soweit herunter gefahren, dass die Pfarreien mit den darin enthaltenen Schlüssel­zuweisungen plus Erträgen aus eigenem Vermögen plus den wenigen Spenden und Kollekten gerade eine „schwarze Null“ erreichen konnten.

Damit soll jetzt über Nacht Schluss sein. So wünscht es der PEP. Dieser hat in seinen Prämissen neben eigentlich harmlosen Steigerungsraten für Personal-, Energie- und Sachkosten auch eine „Zeitbombe“ versteckt. Die Pfarreien sollen nämlich demnächst – das Bistum behält sich den genauen Zeitpunkt der Einführung noch vor – zweckgebundene Rücklagen für zukünftige Instandhaltungskosten von Gebäuden in ihre Bilanz stellen. Damit soll die Pfarrei dann zum Beispiel ein neues Dach, eine Heizanlage, Innen- oder Außenrenovierung bezahlen, allein aus eigener Kraft, ohne dem Bistum zur Last zu fallen. Essen wäre damit das erste Bistum, welches diese Baulast abgeben könnte.

Fehlentwicklung vermeiden

Wir verbrauchen zu viel Zeit in der katholischen Kirche, speziell im Bistum Essen, für die falschen Probleme. Seit Jahren werden die Mitglieder der katholischen Kirche nicht gerade von guten Nachrichten verwöhnt und ein Ende ist nicht abzusehen. Es steht zu befürchten, dass die Abwärtsspirale sich immer weiter dreht. Wenn jetzt die Voten mit der Devise „Augen zu und durch“  in die Umsetzung gehen, wird das Unbehagen nur zunehmen. Müssen wir denn gerade jetzt Immobilienprojekte wichtiger nehmen als Menschen?

Dabei hat das Bistum Essen jetzt die Chance, sich davon abzusetzen, denn das Bistum hat sich einen „Schatz“ geschaffen, den man jetzt nur klug einsetzen muss.

Chance

Bis Mitte 2018 hat man in einem mehrjährigen Prozess das gesamte Gemeindeleben vor Ort durchleuchtet. In den 42 Pfarreien des Bistums haben 2000 bis 3000 Freiwillige buchstäblich alles auf den Kopf und in Frage gestellt, was die pastorale Qualität in den Gemeinden ausmacht. Man hat diskutiert und konzipiert, überholte Ansätze identifiziert und statt dessen so manche neue Idee entwickelt. Das nannte man den Pfarrei­entwicklungs­prozess (PEP), der vom Bistum gut strukturiert und gesteuert war, mit viel Hilfestellung unterstützt war und bei den Beteiligten durchweg sehr gut angekommen ist. Selbst evangelische Christen und ihre Seelsorger sollen schon beinahe neidvoll kommentiert haben: „Ihr habt es gut, ihr habt ja den PEP. So etwas brauchen wir auch“.

In 42 Voten haben alle Pfarreien ihre Erkenntnisse schriftlich niedergelegt und dem Bischof übermittelt. Ein so reicher Fundus an Bestandsaufnahme und Ideen sucht in ganz Deutschland nach seinesgleichen. Dieses Material gehörte doch jetzt aufbereitet an die Öffentlichkeit und dann sollte der Bischof mit einem lauten Startschuss eine allgemeine, breite Welle in Gang setzen, wo sich jeder einbringen kann. Alles was an Potential, Kreativität und Substanz in den Gemeinden steckt, sollte in einer groß angelegten Aktion gehoben und erneuert werden.

Das wäre endlich einmal eine positive Schlagzeile in den Medien, welche schon so lange erwartet wird. Das Bistum lässt diese Chance aber anscheinend vergehen. Wenn man den bisher gut gelaufenen Pfarrei-Entwicklungs-Prozess (PEP) nicht überdehnen würde, sondern ihn in gewandelter Form als Pfarrei-Erneuerungs-Prozess (PEP 2) fortentwickeln würde, so wäre das ein gewaltiges Zeichen.

Statt dessen blickt man voller Angst nach vorn: was ist, wenn die Konjunktur einbricht, wenn die Kirchensteuer sinkt, wenn unsere Kirchen Dachschäden bekommen? Können wir das denn alles bezahlen? Reichen unsere wenigen Seel­sorger für so viele neue Aufgaben?

Packen wir es doch einfach einmal an!

Die Neuordnung der Finanzen muss ja nicht vollständig in Vergessenheit geraten. Nach Reflexion und Prüfung weiterer Alternativen wird man sicher auch hier gemeinsame Lösungen finden können. Die Instand­haltungs­rücklage ist nicht der einzige Weg. Hätten wir sie vor dreißig Jahren, also als das Bistum gerade halb so alt war, schon eingeführt, hätten wir damals schon zwei Drittel unserer Kirchen einsparen müssen, deren wir uns aber auf geheimnisvolle Weise so noch lange erfreuen konnten.

 

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