Aus Trotz bleiben

Immer öfter zieht der eine oder andere Bischof zum Pontifikalamt in seinem Dom an fast leeren Kirchenbänken vorbei. Die Fernsehkamera vermag es nur unvollkommen zu beschönigen. Vor ihm wird nicht nur das Evangeliar hineingetragen, sondern hinter ihm wird er überschattet vom Versagen vor den Missbrauchstätern, von mangelndem Reformwillen, von verkrusteten macht-orientierten Strukturen. Sind alle die, welche weggeblieben sind, schon ausgetreten?

Warum austreten?

Die Bistümer bemühen die hohen Austrittszahlen der letzten zwei Jahrzehnte, um ihre Pfarreien finanziell unter Druck zu setzen, damit diese die in ihrem Besitz befindlichen Kirchen schließen oder „außer Dienst stellen“, wie es schöner heißt.

Es gibt viele Gründe, aus der katholischen Kirche auszutreten. Zum Beispiel, wenn eine Pfarrei das Gemeindeleben, welches aus verschiedenen Gründen, auch Corona, etwas „ruhig“ geworden ist, nicht mehr neu „anfachen“ möchte, sondern aus Angst vor bevorstehenden Kostensteigerungen Kirche und gesamte „Liegenschaft“ einfach verkaufen möchte. Wenn sie so etwas im Geheimen beschließt und vor lauter Angst nicht einmal mehr zu höheren Spenden aufrufen mag oder eine vergleichsweise preiswerte Urabstimmung anberaumt, geschweige von einer offenen Befragung der Gottesdienstteilnehmer oder aller Haushalte.

Warum dennoch bleiben?

Eine Wohnung finden für eine obdachlose Frau, für eine geflohene Familie mit kleinen Kindern – und zwar schnell. Gemeindemitglieder sitzen im Büro der Gemeinde und praktizieren gerade Nächsten­liebe, die sie selbst spüren, die nicht nur Gerede ist. Hilfe im Alltag, weit weg vom Vatikan und den Kardinälen. Das gibt es. Das kommt oft vor. Überall.

Bibelkreise, Gespräche über „Gott und die Welt“, gemeinsames Kaffeetrinken, gute Bücher lesen und weiterempfehlen, auch anspruchsvolle theologische, eine Wallfahrt, gemein­sames Vorbereiten von Erntedank, von Basaren, überhaupt vieles gemeinsam machen. Die Praxis vor Ort hält noch. Die Erinnerungen sind stark. Man kennt sich. Man ist gemeinsam traurig über so viel Versagen andernorts.

„Wir dürfen unsere Kirche nicht den Mächtigen preisgeben“, sagen viele. Dieses und fast alle folgenden Zitate sind „O-Töne“ aus der unten genannten Quelle [1] von Philipp Wundersee. „Ich möchte, dass die Kirche den Menschen gehört und sie mit Menschen gefüllt ist, die guten Willens sind und Tolles machen.“ Austreten wollen sie aus der Kirche auf keinen Fall. Gemeindearbeit an der Basis sei so wichtig im Alltag vieler Menschen. „Es tut mir in der Seele weh, dass unsere guten Leute gehen, die in ihrem innersten Herzen so gläubig sind“, hört man. „Die gehen, weil wir Personal haben, das geschäftsschädigend ist. Das ist unverantwortlich.“

Die Krise wird wahrgenommen

Deutsche besuchen nach wie vor in großen Gruppen Rom und den Petersplatz. Ja, man schaut sich gerne die großartigen Bauten der Vergangenheit an. Man weiß, dass für sie auch Bauarbeiter gestorben sind wie in Qatar, dass sie mit dem Geld von „Betrogenen“ errichtet wurden. Man ist papsttreu und bedauert, auf wie „verlorenem Posten“ er steht. Man hört sich die Reaktionen des Vatikans auf den Unmut an der Basis an und findet diese Dokumente „arm und dürftig“.

Die Krise in der Kirche wird wahrgenommen. Aber gerade deshalb müsse man sie verändern, so gibt es (noch) viele Reaktionen. „Ich hadere nicht damit auszutreten“, so kann man hören. „Ich vertrete eine Kirche guten Willens, die für Offenheit steht, für demokratische Ansätze, für Nächstenliebe. Ich möchte nicht für das System Unglaubwürdigkeit stehen. Eigentlich ist unsere christliche Botschaft doch genial!“ Es gibt Menschen, die das genau so denken und es sagen und denen es immer noch gelingt, es zu leben.

Junge Frauen sind zum Beispiel seit ihrer Kindheit in der Kirchengemeinde. Aktiv. An der Institution hält sie aktuell tatsächlich eigentlich nichts mehr. Sie sind zwar von der Amtskirche nur noch maximal frustriert und enttäuscht, gehen aber trotzdem nicht. Es gab ja immer so viel zu tun: Leiterin in der Kinder- und Jugendarbeit, Lektorin und irgendwann sitzt sie im Pfarrgemeinderat; das muss ja auch jemand machen. Und dann die eigenen Kinder. Es ist schön, wenn diese in einem Netzwerk von Menschen aufwachsen können, die eigentlich von ähnlicher „Wellenlänge“ sind.

Reformkräfte fordern tatsächlich mehr wirksame Demokratie. Die Gleich­berechtigung der Frauen. Weihen sogar. Mündige Priester, die zur Ehe­losigkeit nicht gezwungen werden, sondern sich frei dafür entscheiden können und auch ument­scheiden können. Einspruchs­möglichkeiten und Rechts­mittel gegen Entscheidungen des Pfarrers und jedes Gremiums. Dass der Bischof in einer Person nicht gleichzeitig Gesetzgeber und Richter sei. Man muss ja nicht gleich alle Wünsche gleicherweise mittragen, aber dass sich so viel unerledigtes aufgestaut hat, sehen die meisten.

Bischöfe versuchen das abzufedern und bieten so etwas wie „Synodalität“ an, obwohl die „Weltkirche“ auch da noch eher zögert. Prominente Sprecher wollen eben diese Weltkirche nicht „spalten“ und machen Rückzieher.

„Das Lügen muss aufhören“

Die Bischöfe sind es nicht allein, welche die Verantwortung tragen. Die Pfarrer haben ihren Anteil, weil sie vor Ort das „Gesicht“ der Kirche sind und sich im Gehorsam gegen ihren Bischof hin und her winden. Sie geben vieles weiter, was sie auch nicht prüfen, weil es ihnen aufgetragen oder vorgedacht wird.

Pfarrer und Bischöfe freuen sich regelmäßig, wenn katholische Medien oder die Lokalpresse authentische Stimmen einfangen, die noch Mut beweisen. „Ich habe mich entschieden, zu bleiben – gewissermaßen aus Trotz, weil diese Kirche eben auch meine Kirche ist. Für mich bedeutet diese Kirche eine Heimat, die mir durch Jesus Christus geschenkt worden ist: Ein Zuhause für meine Seele. Das will ich nicht aufgeben.“

Menschen wie diese sind der Gemeinde und der Kirche im Ort sehr verbunden, auch wenn sie an der Institution Kirche tatsächlich oft verzweifeln.

„Das Lügen, das Vertuschen, das Verbrüdern mit den Tätern muss endlich aufhören“, so eine unwidersprochene Forderung. Ja, der Reformbedarf sei immens. „Die Worte und Taten von Jesus Christus sind Leitbild. Hoffen und beten wir, dass die derzeitige Krise, die sich zu einem regelrechten Desaster zugespitzt hat, letztendlich vielleicht die Chance für einen konsequenten Neubeginn für unsere Kirche ist.“ Ja – die Wolken sollen vorbeiziehen. Endlich!

Änderungen sind möglich.

Bischöfe beschließen Änderungen des Arbeitsrechts. An manchen Orten geschieht dies sogar sehr schnell. Man ist erstaunt, wie schnell. Werben für eine moderne Kirche – möglich ist alles.

Wenn die Kirche vor Ort finanziell und inhaltlich investieren würde, dann könnten Menschen endlich wieder positive Erfahrungen mit der Kirche verbinden. 

„Eigentlich sind wir als Gemeinschaft der Gläubigen die Kirche und damit von Jesus aufgerufen, sie zu gestalten“, sagen die, die sich nicht aufgeben wollen. Viele Aktionen in den verschiedenen Gemeinden könne man auch schon als mutiges Signal werten. Pastoral­referent:innen predigen, zahlreiche Priester haben sich getraut, gleich­geschlecht­liche Paare zu segnen. Da ist noch viel Luft nach oben.

Viele leiden an der Amtskirche, halten aber an dem fest, was wertvoll ist, an der Gemeinschaft. Sie bleiben und schaffen es irgendwie, sich weiter zu engagieren für eine zeitgemäße Kirche.

Ruhe bewahren

Der Journalist Volker Resing [2] warnt allerdings vor einer Überbewertung der Ortsbischöfe. Bischöfe waren für seinen Glauben, so sagt er, eigentlich immer völlig unerheblich. Er bekennt, dass er lange nichts über seinen Heimatbischof wusste, selbst dass sein Vorname im Hochgebet zu hören war, ist ihm lange nicht wirklich klar gewesen. Erst als er sich beruflich mit der Sonderwelt Kirche auseinandergesetzt hat, begann er zu bewerten und einzuordnen.

Man muss das Desaster manchmal auch vergessen, wenigstens zu Weihnachten. Oder in der Fastenzeit…


QUELLEN

[1] Philipp Wundersee, WDR, tagesschau.de: Kirche in der Krise. Aus Trotz in der Kirche bleiben. 18.12.2022.

[2] Volker Resing, Chefredakteur Herder Korrespondenz, katholisch.de: Die schwere Krise der Kirche birgt auch eine Chance. 15.12.2020.

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