Durch ganz Deutschland geht eine Welle von Kirchenschließungen. Die Bistümer sind unterschiedlich weit. Das Bistum Essen ist eines der Vorreiter. Von über 260 Kirchen im Jahr 2020 soll ihre Zahl auf unter 100 im Jahr 2030 sinken. Zwei Drittel aller Kirchen sind vom Rotstift bedroht und sollen eingespart werden.
Nicht der Bischof, sondern die eigene Pfarrei will den Gemeinden ihre Kirche nehmen, allerdings auf nachhaltigen, finanziellen Druck von oben. Denn Eigentümer der Kirchen ist nicht das Bistum, sondern die jeweilige Pfarrei, von denen in Essen nach einer Massenzusammenlegung vor 2010 gerade einmal 42 verblieben sind, bis auf eine alle im XXL-Format mit durchschnittlich 6 Kirchen und 18.000 Gläubigen auf einer Fläche von 44 km2, die größten Pfarreien in Deutschland, an der Spitze St. Urbanus, Gelsenkirchen-Buer, mit 11 Kirchen und sagenhaften 34.000 Gläubigen auf 54 km2.
Aber das Bistum hat das Geld, es verfügt über die Kirchensteuer und weigert sich, in Zukunft noch für teure Renovierungen zu zahlen. Dafür, so der Wille des Bistums, sollen die Pfarreien nach einer diözesanen Finanzreform in Zukunft selber aufkommen. Beizeiten sollen sie dafür mit dem Sparen beginnen, also in ihren Bilanzen zweckgebundene Rückstellungen bilden. Weil man nichts auf die hohe Kante legen kann, wenn man keine Überschüsse hat, ist das Bistum bereit, die jährlichen Zuweisungen von Mitteln aus der Kirchensteuer zu erhöhen, aber diese Beteiligungen an den Rückstellungen sind insgesamt gedeckelt und reichen bestenfalls für 2 von den durchschnittlich 6 Kirchen, die in jeder Pfarrei vorhanden sind.
Eine Pfarrei, die keinen satten Bilanzverlust einfahren will, kann es sich nur noch leisten, für ihre beiden Leuchtturmkirchen Rückstellungen zu bilden. Die übrigen gehen leer aus. So einfach ist das. Und bald sind sie weg, denn sobald die nächste große Reparatur von Dach, Turm, Heizung, Innen- oder Außenwänden kommt – und die ist alle zwanzig bis dreißig Jahre so sicher wie das berühmte Amen – ist niemand mehr da, der das zahlt. Also spätestens dann muss stillgelegt, profaniert, verkauft, abgerissen werden. Der Bischof legt den Pfarreien allerdings schon jetzt dringend nahe, ihren Kirchenbesitz zu untersuchen und in Entwicklungsprojekten zeitnah zu ordnen. Sprich: jetzt schon Investoren zu finden.
Wie war es möglich, dass die Pfarreien in den letzten 150 Jahren ihre Kirchen nicht nur halten konnten, sondern in den 1950er und 1960er Jahren sogar noch Neubauten errichten konnten? Gab es da diese Rückstellungen auch schon? – Nein, es gab sie nicht. Die Logik der Pfarrei- und Kirchenfinanzierung war eine ganz andere. Sie basierte nicht auf dem Ansparen großer Kapitalbeträge für mögliche zukünftige Bedarfsfälle, sondern alles wurde im Umlageverfahren immer aus den laufenden Einnahmen aus der Kirchensteuer finanziert. Das war ganz ähnlich so wie heute die deutsche Rentenversicherung funktioniert. Ich zahle heute für dich, morgen, wenn ich Geld brauche, zahlt es jemand anders für mich. Bei Kirchen: ich zahle heute für deine, du zahlst morgen für meine.
Wenn eine Kirche Geld brauchte, und das war ja zum Glück nicht überall gleichzeitig der Fall, dann stellte ihr Kirchenvorstand beim Bistum einen Finanzierungsantrag und man verhandelte über die Aufteilung des benötigten Betrages. Das war nicht nur solidarisch und vernünftig, es war sehr robust und hat mitgeholfen, Wirtschaftskrisen und Währungsreformen zu überstehen.
Dieses Verfahren war die logische Folge aus der Tatsache, dass seit etwa 1950 alle deutschen Bistümer die Kirchensteuer mit der Billigung durch Landesgesetze an sich ziehen konnten, welche bis dato direkt aus dem Einkommen der Gläubigen an die örtlichen Pfarreien floss. Somit mussten die Bistümer zwangsweise in die Besoldung der Geistlichen eintreten und in die Baulasten. Die Geistlichen wechselten direkt auf die Gehaltsliste des Bistums, die Kirchen verblieben zwar im Besitz der Pfarrei, ihr Erhalt wurde jedoch Aufgabe des Bistums.
Dieses System funktionierte bis etwa 2010. Um diese Zeit stellten die Bistümer ihr Rechnungswesen von der traditionellen sog. kameralistischen Rechnung auf moderne doppelte Buchhaltung um. Grund war unter anderem der Druck der deutschen Öffentlichkeit im Gefolge des Limburger Finanzskandals, die Vermögensverhältnisse offen zu legen und testierte Bilanzen zu veröffentlichen. Und etwa fünf Jahre später zogen die Pfarreien nach, wobei die Veröffentlichung bis heute noch auf sich warten lässt. Diese Prozesse verliefen in den verschiedenen Bistümern natürlich unterschiedlich schnell. Nun wurden Gesetzliche Normen wie das Handelsgesetzbuch (HGB) bedeutsam, und man begann, wie ein Wirtschaftsunternehmen zu denken und zu planen. Kirchen wurden von Gotteshäusern, die einen hohen unbekannten ideellen Wert hatten, plötzlich zu immobilen Anlagegütern, denen man auf der Aktivseite der Bilanz einen konkreten Wert beilegen musste. Und Wirtschaftsunternehmen bilden eben für kommende Reparaturen ihrer Produktionsanlagen, der Geschäfts- und Betriebsausstattung ja auch Rückstellungen. Und was waren Kirchen anderes als Produktionsstätten. Dachte das Bistum Essen und andere unter Anleitung einer renommierten Unternehmensberatung. Sollen doch die Pfarreien als Eigentümer der Kirchen in Zukunft selbst dafür sorgen, dass genügend Geld da war, wenn es gebraucht würde.
Leider hatte das Bistum übersehen, dass die Pfarreien in der Vergangenheit immer so knappe Zuweisungen aus der Kirchensteuer bekommen hatten, dass der Haushalt immer gerade so eben ausgeglichen war, auf keinen Fall aber nennenswerte Überschüsse auswies. Woraus also die verlangten Rückstellungen bilden? Da erfand das Bistum eine neue Zuweisung und das Problem schien gelöst. Das Geld dafür entstammt natürlich letztlich auch aus der Kirchensteuer, aber das Bistum kann mit der neuen Zuweisung bequemen Druck ausüben, damit die Pfarreien ihren Bestand an Kirchen verringern.
Ein geniales System, welches jedoch von immer mehr Menschen durchschaut wird und schon viel böses Blut verursacht hat.