Zeitgeist

Es kommt vor, dass wir es nicht für so wichtig halten – oder für zu anstrengend – ein bestimmtes Geschehen in seiner Komplexität zu begreifen. Insbesondere in Auseinandersetzungen oder dann, wenn wenig Zeit zum Nachdenken bleibt.  Wir greifen dann schnell zu Begriffen, die sich gut  als Waffe im Streit der Meinungen eignen.

Zu diesen Waffen gehört auch der Zeitgeist. Wir verstehen den Begriff selten positiv, sondern meist sehr abwertend. Wenn es uns gelingt,  unseren Gegner mit Erfolg zu beschuldigen, dass er sich seinem Diktat unterwirft, so hat unser Gegner moralisch schon verloren. Der Zeitgeist verkörpert eben alle bösen Aspekte der Gegenwart und Zukunft. Er ist eben ein ganz übler Zeitgenosse.

Wo er vorkommt

Der Zeitgeist ist überall. Wenn ein Firmenchef in Turnschuhen und Recyclingkleidung auftritt, so hat ihn bestimmt der Zeitgeist durchdrungen. Wenn jemand nichts von der Inklusion in der Schule hält, so wirft er einer positiven Berichterstattung in der Presse Abhängigkeit vom Zeitgeist vor. Auch hochrangige Kirchenvertreter bilden da keine Ausnahme und sehen den Zeitgeist an allen Orten. Bischöfe bemühen doch gerne den Zeitgeist, wenn sie nach einer Erklärung suchen, warum die beiden großen christlichen Konfessionen keine Volkskirchen mehr sind.

Viele Menschen machen sich Gedanken, warum unsere Ehen nicht mehr halten, und sie beschuldigen den Zeitgeist. Wir fragen uns, warum die Jugend nicht mehr in die Kirche geht. Ganz einfach – der Zeitgeist. Warum haben wir keine Ehrfurcht mehr vor Gott oder dem Papst oder dem Hochwürdigen Herrn Pastor? Warum sind die Kinder so ungehorsam? Warum breiten sich Lügen und alternative „Fakten“ wie eine Seuche aus? Warum wächst die Kriminalität? Warum bringt die Presse entweder nur Skandale, Klatsch und Tratsch – also einen Haufen belangloses Zeug – oder nur noch manipulierte Inhalte?  Es wird der Zeitgeist sein. Damit ersparen wir uns mühsames Nachdenken über diese schwierigen Fragen.

Für alles und jedes beinahe muss der Zeitgeist herhalten. Fast sehnt man sich zu den Zeiten zurück, wo man noch scheu vom „Leibhaftigen“ oder vom „Gott-sei-bei-uns“ zu sprechen pflegte.

Der Zeitgeist, an dem die Kirche sich nach den Ermahnungen von Kardinal Gerhard Ludwig Müller nicht zu sehr ausrichten soll, sei Gift für die Kirche, so Müller, der auch zu wissen glaubt, wie das Gegengift aussieht.

Andere Namen

Der Zeitgeist kommt manchmal auch verkleidet, unter ganz anderen Namen, daher. Die Anpassung an den  Zeitgeist ist die säkulare Moderne, die Papst Benedikt XVI zu den Leitfäden seines Pontifikats gemacht hat.  Er erwähnt sie in seiner umstrittenen Regensburger Vorlesung 2006 mit dem unglücklichen Islam-Zitat als besondere Gefahr für die Kirche. Andere Namen sind Wertewandel, sogar Werteverlust, und immer häufiger hört man den Mainstream.

 

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